Ruanda ist ein Land mit stabiler Sicherheitslage. Dieses Urteil können wir nach nun fast fünf Monaten im Land vorbehaltlos unterschreiben. Obwohl wir als Weiße deutlich mehr Geld zu Verfügung haben als der Durchschnitt der Bevölkerung gab es die ganze Zeit über gerade einmal zwei eher dilettantische Taschendiebstahlversuche zu verzeichnen. Verglichen mit europäischen Großstädten, wie zum Beispiel Istanbul ist dieser Schnitt nicht der Rede wert. Natürlich ist die Polizei- und Militärpräsenz im Land für europäische Maßstäbe ungewohnt hoch, was uns zunächst als Erklärung für die offenkundig eher geringe kriminelle Energie zumindest im Alltagsleben, diente.
Nachdem wir aber mittlerweile bereits zweimal unfreiwillig Zeugen eines schrecklichen Schauspiels wurden, wurde uns auf bittere Weise deutlich, warum darüber hinaus Stehlen in Ruanda nicht besonders ratsam ist. Wird ein Dieb in Deutschland ertappt, wird er gefasst und anschließend der Polizei übergeben. Dies ist zwar eine mentale Demütigung für den Ertappten die Festnahme zieht aber im Normalfall keinerlei körperliche Züchtigungen oder Schmerzen nach sich, es sei denn der Dieb wehrt sich ungewöhnlich heftig oder wird aggressiv. In Ruanda ist das anders: Zwar hält sich auch die Polizei mit Prügeln und Schlägen zurück, in der Mentalität der Menschen hier ist es jedoch nahezu flächendeckend verankert, dass eine Straftat wie Diebstahl auch mit körperlichen Züchtigungen vergolten werden muss. Auf die Polizei verlässt sich hier jedoch keiner: Der Staat lässt die Diebe, um Gefängniskosten zu sparen, sowieso nach wenigen Tagen oder sogar Stunden wieder frei, so die landläufige Meinung vieler Ruander, und kann daher eine adäquate Bestrafung der Täter im Sinne der Bevölkerung oder der Geschädigten nicht garantieren. Ob sich diese Position auf sämtliche Straftaten (also auch z.B. Mord) bezieht, wissen wir nicht, in Bezug auf Diebstahl jedoch, verhält es sich so. Wie unglaublich schockierend so ein Szenario für einen Europäer ist, für den sein Recht auf Körperliche Unversehrtheit so selbstverständlich ist, wie das Amen in der Kirche, konnten wir bereits zweimal unfreiwillig erleben. Unterwegs auf einem großen Markt in Kigali sahen wir plötzlich einen jüngeren Mann schnell davonrennen, gefolgt von einer johlenden Menschenmenge. In Sekundenschnelle kamen, angelockt vom Aufruhr, unzählige weitere Menschen herbei gerannt und so wurde der Täter recht schnell zu Boden gebracht. Dann jedoch fingen plötzlich alle, die um den hilflosen, am Boden liegenden Mann herumstanden an, wild auf den Dieb einzuschlagen, mit den Fäusten, mit den Füßen, sogar mit Stöcken. Immer mehr Leute kamen herbeigerannt, laut rufend, gepackt vom Rausch der Gewalt, so kam es uns vor. Hilflos versuchte der junge Mann noch zu entkommen, doch die Masse der Leute ließ ihm keine Chance. Sie prügelten auf ihn ein. Ohne Unterlass und mit sichtbarer Brutalität.
Schockiert, hilflos mussten wir dem Geschehen zuschauen. Nach einigen Minuten roher Gewalt gegen den Täter griff die Polizei, die nicht weit davon entfernt stand, das Geschehen abwartend beobachtend, schließlich ein, und schleppte den blutenden, weinenden (!) und geschundenen Dieb in Richtung ihres Polizeiautos.
In Gesprächen mit Einheimischen über dieses Ereignis stellten wir fest, dass dieser Umgang mit Dieben allgemein anerkannt und akzeptiert zu sein scheint. Nicht nur in Ruanda, sondern in ganz Ostafrika. In Uganda komme es sogar vor, so wurde uns berichtet, dass Diebe am Ort des Geschehens zu Tode zu geprügelt werden, Kritische Stimmen zu dieser Praxis hörten wir erschreckenderweise kaum. Natürlich kann man sich damit etwas trösten, dass ein ruandischer Dieb genau weiß, was ihm im Falle des „Erwischtwerdens“ blüht, dennoch ist die Hilflosigkeit mit der man einer solchen Situation gegenübersteht unerträglich. Einzig eine Möglichkeit bleibt: Man nimmt seine Kamera, läuft auffällig mitten zum Schauplatz des Geschehens und fängt an das Szenario zu fotografieren. Dann greift die Polizei sofort ein. Für ein gutes Image gegenüber den Weißen, für den Schein eines Rechtstaats tut die Polizei hier alles: Dann erspart sie sogar einem chancenlosen Dieb rohe Gewalt und die Prügel des aufgebrachten Mobs.
In Tansania haben wir Selbstjustiz nie selbst miterleben müssen, – berichtet wurde es uns aber auch. Einem Deutschen aus der Reisegruppe wenige Wochen vor uns (im Sommer 2009) wurde am Strand seine Kamera abgenommen. Was der Dieb dann mit dem Leben bezahlt hat… Sehr krass.