Zu den vielen Dingen auf die wir während unseres Freiwilligendienstes einen veränderten Blickwinkel entwickeln konnten, gehört auch die Beurteilung der Wirtschaft eines Landes. Gerade als Theologe nimmt man ja gerne für sich eine kritische Position gegenüber der Wirtschaft in Anspruch, die wir uns auch grundsätzlich weiterhin erhalten möchten. Dennoch, sollte man nie vergessen, dass man sich eine distanziert-kritische Sicht auf den Kapitalismus und die Wirtschaft erst einmal leisten können muss. Privilegiert durch Kirchensteuer und Beamtenstatus vergisst man nämlich schnell, wie schwer es sein kann an Geld zu kommen und welcher Existenzkampf dahinter steht. In Ruanda konnten wir nämlich gerade im kirchlichen Bereich beobachten, wie hart der Überlebenskampf und wie groß die Sorge um die monatlichen Gehälter oft war. Es war daher nicht verwunderlich, dass „Geld“ oft das Hauptthema war mit dem sich die Gemeinden auseinandersetzten. Der einzige Ausweg waren dabei dann oft innovative Projekte, die die finanzielle Situation der Gemeinde verbessern sollten. Kaninchenzucht, Teestube, Landwirtschaft – Kapitalismus in seiner ursprünglichsten Form. Diese Erfahrung führte uns zu der Erkenntnis, dass ein Streben nach Verbesserung der materiellen Situation eigentlich absolut natürlich und normal ist. Fehlt dieser Impuls, so ist man vollkommen auf die Hilfe Dritter angewiesen und die gibt es hier (materiell betrachtet) einfach nicht oder nicht mehr (die Entwicklungshilfegelder zumindest für die EPR wurden in den letzten Jahren stark zurückgefahren). Reichtum und Theologie stehen also keinesfalls in einem natürlichen Widerspruch. Im Gegenteil, im hiesigen Kontext muss ein Pfarrer sogar reich sein, um beispielsweise seinen fürsorglichen Aufgaben gerecht werden zu können. Bevor man also allzu lautstark und vor allem fundamental gegen die Wirtschaft wettert, oder – wie in unserem Fall – sich erstmal enttäuscht beklagt es ginge in den Kirchengemeinden immer nur ums Geld, sollte man sich bewusst machen, wo das Geld denn herkommt. Und es sind schlicht die Betriebe und Fabriken, die den Menschen Arbeit und damit die Möglichkeit Steuern zu bezahlen, ermöglichen.
Was wir im Kleinen in den Kirchengemeinden hautnah erleben konnten, spiegelt sich ebenso
in der wirtschaftlichen Situation des ganzen Landes wieder. Wie sehr ein Land auf eine funktionierende Wirtschaft angewiesen ist, fiel uns in Deutschland nie so sehr auf wie hier. In Deutschland hat man oft das Gefühl, wenn es irgendwo brennt, dauert es ewig bis einen etwas davon persönlich erreicht oder betrifft. In Ruanda sind die Verbindungen weniger weitläufig und auch die Alternativen (z.B. gibt es im Logistikbereich nur den Straßenverkehr, keine Bahn und keine Schiffe) fehlen. Wenn ein Sektor zusammenbricht kann das fatale Folgen für alle nach sich ziehen.
Unablässig vergrößert die ruandische Regierung das Straßennetz, um für Investoren attraktiver zu werden. Ohne Straßen könnten nicht einmal die Tanklaster nach Ruanda fahren, die Folge wäre ein Zusammenbruch des Transport- und Logistiksektors. Tausende könnten nicht mehr zu Arbeit fahren – ein Zusammenbruch zahlreicher Betriebe wäre die Konsequenz. Das gleiche Szenario würde Ruanda ebenfalls bevorstehen, wenn sich die Benzinpreise plötzlich um ein vielfaches verteuern würden. Wir vermuten daher, dass die Politik bei den Benzinpreisen für Stabilität sorgt (der Preis für Diesel blieb mehr oder weniger 6 Monate lang gleich).
Da Ruanda noch ein Agrarstaat ist (90% der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft, viele sind davon Selbstversorger), muss Technologie und Industrie teuer importiert werden, oder – falls die steigende Nachfrage im Land nicht bedient werden kann – wandern gerade diejenigen, die das Land innovativ voranbringen könnten ins Ausland ab. Baustoffe, wie Metall, Beton oder Glas sind immer noch nahezu unbezahlbar. Ebenfalls technische Geräte: Eine Motorsäge (Stihl) kostet 1500 Euro, ein Rasierapparat (Philipps) 150 Euro. Man beachte: ein durchschnittlicher Arbeiter verdient hier ca. 3 Euro am Tag. Die übermäßig hohen Kosten für die Technik hemmen auch die Entstehung von Betrieben wie beispielsweise Sägewerken oder nahrungs- und, milchverarbeitender Industrien. Obwohl Nachfrage und Arbeitskräfte da sind ist sind die Kosten in die wirtschaftliche Selbständigkeit noch viel zu hoch. Und so bezahlt man für ein Päckchen Cornflakes weiterhin 10 Euro. Die ruandischen Firmen, die hierzulande maschinell produzieren kann man an zwei Händen abzählen.
Lässt sich auf diverse Güter partout nicht verzichten, läuft die Produktion oft völlig unwirtschaftlich und veraltet ab. Das gilt in erster Linie zum Beispiel für ganz elementare Dinge wie Strom. 50% des Stroms werden in Ruanda mithilfe von Dieselgeneratoren (!) gewonnen. Die einziger Steigerung wäre noch die Generatoren mit Euronoten zu heizen – von den klimatischen Folgen ganz zu schweigen.
Erst hier wurde uns bewusst, was es eigentlich für ein Vorteil ist, dass in Deutschland nahezu ALLES im Land produziert werden kann (außer vielleicht Bananen).
Die Wirtschaft ist das Rückrat eines Industriestaates – an diesem Satz ist wirklich etwas dran. Krankt die Wirtschaft, so fällt das Land zwangsläufig in agrarstaatliche Strukturen zurück.
All diese allgemeinen Fakten waren uns natürlich nicht neu, allerdings konnten wir deren Bedeutung hier deutlicher spüren. Was hängt wie zusammen – was hängt wo alles dran. Auch gerade im Hinblick auf die weltweite Finanzkrise war dies eine lehrreiche Erfahrung für uns, die uns die Zusammenhänge nun etwas klarer und vor allem realistischer beurteilen lässt.
Dennoch kann man in Deutschland und in anderen Industriestaaten wiederum sehr gut beobachten, wie sich die wirtschaftliche Dynamik immer zügelloser zu verselbständigen scheint. Beispiele gibt es genug (ich verweise auf Jean Zieglers „Imperium der Schande“, unter Buchtipps/Literaturhinweise). Erst vor kurzem fiel mir ein schockierender Bericht auf tagesschau.de zum Thema Lebensmittelverschwendung in Deutschland auf. Tonnenweise Lebensmittel werden in Deutschland täglich weggeschmissen, um unter anderem die Nachfrage stabil zu halten. Diese, aus meiner Sicht, pervertierte Form des Kapitalismus, die sich nur noch an Zahlen und Nullen orientiert und die Verbesserung der Lebenssituation vollkommen aus den Augen zu verlieren scheint, muss scharf verurteilt werden. Natürlich kann man einwenden, dass die „Verbesserung der Lebenssituation“ Ansichts- und vor allem Typsache sei, doch genauso wie es unredlich wäre das System des Kapitalismus als solches, an eben diesen Extremen gemessen, komplett in Frage zu stellen, wäre es falsch eben diese Perversionen als normal oder systemspezifisch zu legalisieren.
Zunächst dient es dem Menschen und hat daher auch ihre Berechtigung, eben daran also –ob es dem Menschen denn wirklich dient- sollte man es auch messen.
Unbedingt dazu lesen: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/lebensmittel132.html